Es gibt sie noch, die wilden, undomestizierten Landschaften, die der menschlichen Manipulation nicht erreichbar sind: eine Welt, die sich zusammensetzt aus Wind, Regen, Kälte, Frost, Lichtwechseln, Feldwegen, Bäumen, Blumen, Pflanzen und Tieren, besonders aus den Vögeln und ihren Sprachen. Es ist das Terrain, dem sich mit großer Leidenschaft eine spezielle Literatur widmet – das Nature Writing. Die genaue Erkundung von Natur und Landschaft verbindet sich darin mit der Selbstwahrnehmung des Schreibenden und der Reflexion auf das Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Als Musterbeispiel für dieses Nature Writing gilt seit jeher das Werk des amerikanischen Schriftstellers Henry David Thoreau (1817–1862), der mit seinem „Leben in den Wäldern“ – so der Untertitel seines Werks „Walden“ – zur Ikone von Generationen von Zivilisationsflüchtigen und Wildnissuchenden geworden ist. Die Gattung Nature Writing wird im anglofonen Sprachraum immer populärer, nicht zuletzt aufgrund der aktuellen Entwicklungen auf unserem Planeten. In Deutschland war das ästhetisch ambitionierte Nature Writing lange Zeit erstaunlich schwach entwickelt. Aber seit einigen Jahren entsteht auch hierzulande eine Form, die das konventionelle Naturgedicht und die erzählerisch-essayistische Naturbetrachtung auf neue Fundamente stellt. Was kann die Literatur heute noch über die Aussichten der Natur erzählen?
Michael Braun
Klaus Böldl: Der Atem der Vögel. Roman. S. Fischer. Frankfurt a. M., Mrz 2017
Jürgen Goldstein: Naturerscheinungen. Die Sprachlandschaften des Nature Writing. Matthes & Seitz Berlin. Okt 2019
Christian Lehnert: Cherubinischer Staub. Gedichte. Suhrkamp. Berlin, Aug 2018
Jutta Person: Korallen. Ein Portrait. Matthes & Seitz Berlin, Apr 2019