Bereits mit seinen Debüt-Erzählungen „Einer“ und „Anderntags“ war der 1961 in Tirol geborene Schriftsteller Norbert Gstrein vor 30 Jahren in Erlangen zu Gast. Langjährige Poetenfest Besucherinnen und Besucher konnten so das Werden eines jungen Debütanten zu einem der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller beobachten. Denn Norbert Gstrein hat nicht nur seinen ganz eigenen Prosasound der schönklingenden Satzkaskaden gefunden, sondern auch seine eigene Poetik der skeptischen Erzählhaltung. Alle Bücher des Autors stellen die Frage nach den Möglichkeiten und den Grenzen von Literatur: Können Texte Wirklichkeit überhaupt abbilden? Lässt sich die Geschichte eines Lebens stringent nacherzählen? Und kann man dem Erzähler trauen?
Bei seinem sechsten Besuch des Poetenfests stellt Norbert Gstrein seinen neuen Roman „Als ich jung war“ vor. Darin geht es auch um die Frage, wieviel ein Erzähler über die eigenen Abgründe wissen kann. Hier ist der ehemalige Hochzeitsfotograf Franz aus Tirol der Erzähler, der seinen Job hinwirft, als eine Braut zu Tode stürzt, die er wenige Stunden zuvor noch am selben Berghang fotografiert hatte. War es ein Unfall, Suizid oder gar Mord? Franz, der womöglich auch vor der Strafverfolgung wegen eines sexuellen Übergriffs auf eine Minderjährige flieht, geht nach Amerika. 13 Jahre lang ist er Skilehrer in den Rocky Mountains, bis sich auch hier ein ungewöhnlicher Selbstmord ereignet. Ein langjähriger Schüler von ihm, ein einsamer Professor, nimmt sich bei einer Schussfahrt gegen einen Baum das Leben. War der Professor eine Art auf Lolitas versessener Humbert Humbert oder unschuldig? Sagt der Erzähler Franz die Wahrheit oder konstruiert er sie? „Als ich jung war“ ist ein ganz besonderer Beitrag zur #metoo-Debatte: hochliterarisch, ambivalent und an den Grundfesten moralischer Gewissheiten rüttelnd. (D. K.)
Auszeichnungen u. a.: Rauriser Literaturpreis, Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (1989), Friedrich-Hölderlin-Förderpreis, Berliner Literaturpreis (1994), Alfred-Döblin-Preis (1999), Tiroler Landespreis für Kunst (2000), Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2001), Uwe-Johnson-Preis (2003), Stipendium der Stiftung Bartels Fondation Basel (2012), Anton-Wildgans-Preis (2013), Sepp-Schellhorn-Stipendium (2016).
Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Einer“, Erzählung, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1988
– „Anderntags“, Erzählung, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1989
– „Das Register“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1992
– „O2“, Novelle, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1993
– „Der Kommerzialrat. Bericht“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1995
– „Die englischen Jahre“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1999
– „Selbstportrait mit einer Toten“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2000
– „Das Handwerk des Tötens“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003
– „Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens”, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2004
– „Die Winter im Süden“, Roman, Hanser, München 2008
– „Die ganze Wahrheit“, Roman, Hanser, München 2010
– „Eine Ahnung vom Anfang“, Roman, Hanser, München 2013
– „In der freien Welt“, Roman, Hanser, München 2016
– „Die kommenden Jahre“, Roman, Hanser, München 2018
– „Als ich jung war“, Roman, Hanser, München 2019