Die Lust der Sprache als Welterkenntnis
Wenn es etwas gibt, das Ulrike Draesner nie zu verlassen scheint, ist es die Lust an der Sprache als Mittel der Welterkenntnis. Das Ergebnis ist ein eindrucksvolles Werk, das sich aus den unterschiedlichsten Genres und Textsorten zusammensetzt. Von Gedichtbänden, historisch weit ausgreifenden Romanen und Kurzprosa bis hin zu Hörspielen, Erzählungen, Space Poems, Essays, Reiseberichten, Übersetzungen, Poetik-Vorlesungen, einem Libretto und einer Bearbeitung des Nibelungenliedes ist alles vorhanden. Die 1962 in München geborene Schriftstellerin hat Rechtswissenschaften, Anglistik, Germanistik und Philosophie studiert, über Wolfram von Eschenbachs „Parzival“ promoviert und einige Jahre an der Ludwig-Maximilians-Universität München unterrichtet. Seit 2018 ist sie Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.
Am Anfang standen Gedichte: 1995 debütierte Ulrike Draesner mit dem Lyrikband „gedächtnisschleifen“, in dem sich Stimmen aus der Vergangenheit wirkungsvoll mit Naturbildern verschränken und einen weiten Assoziationsraum öffnen. Drei Jahre später erschien ihr beklemmender Roman „Lichtpause“ (1998). Den Auftakt bildet der spektakuläre Sturz einer Elfjährigen vom Garagendach, deren Geschichte sich rückwärts entspinnt. Kapitel um Kapitel tritt das Unglück des übergewichtigen, wissbegierigen Mädchens Hilde deutlicher hervor – ihre Eltern begegnen ihr ohne jedes Verständnis für kindliche Ängste und speisen sie mit Floskeln ab. Um Familie als pathologische Angelegenheit und Geschlechteridentität ging es auch in dem Roman „Mitgift“ (2002), in dem eine Frau namens Aloe das Wort ergreift und vom Schicksal ihrer Schwester Anita erzählt. Wegen ihrer charismatischen Schönheit glühend von ihr beneidet, hatte die Mutter ihre jüngere Tochter Anita, die mit weiblichen und männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren worden war, durch Operationen in einen weiblichen Körper hineingezwungen, womit sich Anita eines Tages nicht mehr zufriedengibt. Mit starkem Gespür für kollektive atmosphärische Stimmungen griff Ulrike Draesner drei Jahre später in „Spiele“ (2005) ein Ereignis auf, das sich als Vorbote der terroristischen Anschläge nach der Jahrtausendwende interpretieren ließe: Die Entführung elf israelischer Sportler durch palästinensische Terroristen während der Olympischen Spiele 1972. Diese Geschehnisse bilden das Hintergrundrauschen einer Münchner Jugend, die in genau jenem Sommer in eine entscheidende Phase eintritt.
Neben zahlreichen Gedichtbänden, in denen Draesner mit Formen und Sprachspielen experimentiert, erschien der Erzählband „Richtig liegen“ (2011), in dem die Autorin einen beinahe anthropologischen Blick auf das Geschehen zwischen Liebenden erprobt. Einen spannungsreichen Rückgriff auf die Nachkriegsgeschichte unternahm Draesner in „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ (2014). Flucht, Vertreibung und die Spätfolgen von Entwurzelung werden hier über mehrere Generationen zurückverfolgt, denn untergründig sind diese Erfahrungen für den Primatenforscher Eustachius und dessen Tochter, die Verhaltensforscherin Simone, weiterhin bestimmend. Mit sehr viel Humor und erfrischend freimütig trat die Autorin der Lage älter werdender Frauen entgegen – zuerst auf einer frei erzählten CD im Supposé-Verlag „Happy Aging. Ulrike Draesner über ihre Wechseljahre“ (2016) und dann noch einmal in Buchform „Eine Frau wird älter“ (2018). Wie sich ein Mann jenseits der sechzig auf unerhörte Weise dem Leben aussetzt, ist Gegenstand ihres jüngsten Romans „Kanalschwimmer“. Mit ihren Erkundungen ist Ulrike Draesner noch längst nicht am Ende.
Maike Albath
aktuell: Kanalschwimmer. Roman. mare. Hamburg, 20. Aug 2019