Die Schönheit und die grausame Wirklichkeit als Märchen
Perwana will fort. Sie möchte leben, frei sein, sich lösen aus der Enge ihrer Stadt. Zu erdrückend sind die politischen und sozialen Zwänge der patriarchalen Gesellschaft, der Väter, Brüder, der „Tamburin-Schwestern“, die Frauen ins Haus verbannen, Liebespaare morden und eine Kultur der Gewalt verbreiten. Mit Fareydun flieht Perwana eines Tages aus der umzingelten Stadt ins „Tal der Liebe“: Zuflucht für Paare, die in der Einsamkeit der Wildnis, geführt von einem Peschmerga-Kämpfer, ein neues Leben suchen. Bachtyar Ali lebt seit langem in Köln, aber auch „Perwanas Abend“, sein dritter ins Deutsche übertragene Roman, führt zurück in seine Heimat im Norden des Irak. Alis Romane erzählen vom Kurdistan der 1980er- und 90er-Jahre: Der iranisch-irakische Krieg hat das Land verwüstet, Saddam Hussein führt einen Vernichtungskrieg gegen die Kurden und innerkurdische Konflikte malträtieren die Menschen. Diese Gewalt, die jeder aus den Nachrichten kennt, macht der kurdische Romancier zu mitreißenden, ergreifenden und virtuos erzählten persönlichen Geschichten mit allen denkbaren Farben, Gerüchen, Sinnen und Stimmungen – mit universalen Themen wie Freundschaft, Liebe, Freiheit der Kunst, Aufbruch der Frauen und mit unvergesslichen Figuren wie Dschaladat Kotr, dessen Flötenspiel alle verzaubert, oder Mohamadi Glasherz, dessen Herz so zerbrechlich ist wie die Liebe. Bachtyar Ali erzählt von Krieg, Zerstörung, Leid und Unrecht, aber er schreibt mit größter Poesie und verbindet einen archaischen, märchenhaften Ton mit modernen Erzähltraditionen. Er schildert einfache Menschen mit ihren Träumen und oszilliert zwischen Diesseits und Jenseits, damals und heute, Tradition und Moderne. Bisher ging es in seinen Geschichten um eine Männerwelt – im neuen Roman „Perwanas Abend“ erzählt eine Frau, Perwanas Schwester.
In Kurdistan ist Bachtyar Ali ein hochverehrter Erzähler und Bestseller-Autor mit einem opulenten Werk, Romanen, Essays und Gedichten. Kaum zu glauben, dass er seit über zwanzig Jahren in Deutschland im Schatten des Literaturbetriebs lebte, bis der Unionsverlag begann, seinen literarischen Schatz zu heben. „Der letzte Granatapfel“, die bildmächtige Parabel über Freundschaft und die Suche eines Vaters nach seinem Sohn, wurde 2016 ein großer Erfolg und erntete hymnische Kritiken. „Die Stadt der weißen Musiker“, ein Liebes- und Künstlerroman, fragt nach Gerechtigkeit ohne Rache, nach Macht und Ohnmacht der Kunst angesichts von Panzern und Bomben. „Perwanas Abend“ erscheint Ende August dieses Jahres und handelt vom emanzipatorischen Aufbruch einer jungen Frau, trotz aller Bedrohung durch Tugend- und Religionswächter und -wächterinnen. Drei Romane, drei märchenhafte Innenansichten einer Gesellschaft unter extremen Lebensbedingungen. So viel ist bislang auf Deutsch zu lesen.
Bachtyar Ali ist 1966 in Sulaimaniyya geboren und Sohn eines Peschmerga-Kämpfers. Er studierte Geologie, bevor er ins Visier des Regimes geriet und bei Demonstrationen gegen Saddam Hussein verletzt wurde. Seine Romane sind wie die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, aus denen immer neue Geschichten und Figuren entstehen. Sie huldigen der Schönheit und erzählen die grausame Wirklichkeit als Märchen, denn: „Ohne Fantasie, kann man nicht hinter die dunkle Seite der Realität kommen, kann man all diese Grausamkeit nicht beschreiben. Ich brauche die poetische Sprache, um alle diese Bilder, Gefühle und Gedanken darzustellen, die durch eine Katastrophe entstehen“, sagt Bachtyar Ali, „ohne diese magischen Elemente kann ich die Realität nicht erzählen.“
Cornelia Zetzsche
aktuell: Perwanas Abend. Roman. Aus dem Kurdischen (Sorani) von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim. Unionsverlag. Zürich, 21. Aug 2019