14:00 Gertraud Klemm
Hippocampus. Roman. Kremayr & Scheriau. Wien, 9. Aug 2019
14:30 Simone Lappert
Der Sprung. Roman. Diogenes. Zürich, 28. Aug 2019
15:00 Andreas Maier
Die Familie. Roman. Suhrkamp. Berlin, Jun 2019
15:30 Birgit Birnbacher
Der Schrank. – Ingeborg-Bachmann-Preis 2019 (43. Tage der deutschsprachigen Literatur Klagenfurt 2019)
16:00 Gerhard Falkner
Schorfheide. Gedichte en plein air. Berlin Verlag, Mrz 2019
16:30 Karen Köhler
Miroloi. Roman. Hanser. München, 19. Aug 2019
17:00 Ursula März
Tante Martl. Roman. Piper. München, 5. Aug 2019
17:30 Jan Brandt
Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt. Von einem, der zurückkam, um seine alte Heimat zu finden / Von einem, der auszog, um in seiner neuen Heimat anzukommen. Roman. DuMont. Köln, Mai 2019
18:00 Karin Fellner
eins: zum andern. Gedichte. parasitenpresse. Köln, Apr 2019
18:30 Burkhard Spinnen
Rückwind. Roman. Schöffling & Co. Frankfurt a. M., Jul 2019
Moderation Hauptpodium: Hajo Steinert
Gespräche Nebenpodien: Maike Albath, Michael Braun, Anne-Dore Krohn, Dirk Kruse, Hajo Steinert
Schlossgarten: FM-Anlage für Hörgeschädigte – Ausleihe an der Information
Der große Garten
Kein Tag vergeht ohne neue Hiobsbotschaften. Ein neuer Hitzerekord, zunehmendes Fichtensterben, die Erhitzung der Meere ... Immerzu neue Nachrichten, die die selbstverschuldete Zerstörung unseres Lebensraums dokumentieren. Dazu all die persönlichen Schreckensmeldungen: keine bezahlbare Wohnung in Sicht, die drohende Auflösung einer Ehe, berufliches aussortiert werden, der Verlust von Hab und Gut, ein Verkehrsunfall, der Ausbruch einer unheilbaren Krankheit, der Tod eines geliebten Menschen. Ganz schön heftig, was uns der Pakt – alttestamentarisch gesprochen – zwischen dem lieben Gott und dem Teufel täglich zumutet. Wer schafft es da noch, den Hiob in sich aufzurufen und vornehmlich in Gottesfurcht sein Heil zu finden? Was dem Propheten nach Zerstörung seiner Lebenswelt und persönlicher Marter in der Hinwendung zu einer metaphysischen Größe noch gelang („der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt“), erscheint heute, im Zeitalter „transzendentaler Obdachlosigkeit“ (Georg Lukács), weitestgehend unmöglich. Doch seit jeher ist es Sache der Literatur, den Ungeduldigen, Verlorenen, Trauernden, Leidenden, den „Obdachlosen“ eine Stimme zu geben. Darin liegt der Reiz eines jeden Romans, einer jeden Erzählung, eines jeden Gedichts. Im Zusammentreffen von Autorin, Autor und Publikum, in der Kommunikation zwischen Text und Leser, Vorleser und Zuhörer hat jeder die Chance, sich wenigstens zeitweise zurecht zu finden im alltäglichen Wahnsinn.
In Burkhard Spinnens packendem Roman „Rückwind“ (Sa, 18:30 Uhr) heißt der „Hiob“ unserer Tage Hartmut Trössner. Chef eines Windenergieunternehmens, Ehemann einer höchst attraktiven Schauspielerin, Vater eines kleinen Sohnes, verliert er von einem Tag auf den anderen alles: seine Firma, die Frau, das Kind und sein Haus. Doch eine innere Stimme weist ihm den Hiobsweg. Im Zug wird er von einer jungen Frau angesprochen. Ihr erzählt Trössner alles. In David Wagners neuem Roman „Der vergessliche Riese“ (So, 18 Uhr) besteht die Hiobsbotschaft in einer medizinischen Diagnose, die jeden früher oder später treffen kann. Hier ist es ein Vater, zweifach verwitwet, ein Frauenheld früherer Tage, einer, der vom allmählichen Vergessen im Alter nicht verschont bleibt. In erinnerten wie eingebildeten Liebesgeschichten flackert Lebensfreude auf. Es ist sein Sohn, der das alles aufschreibt. Ein anrührender Roman, wie es einen über fortschreitende Demenz noch nicht gegeben hat.
Eine ganz alltägliche Hiobsbotschaft wird in Jan Brandts neuem Roman „Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt“ (Sa, 17:30 Uhr) mitgeteilt. Ein Vermieter meldet Eigenbedarf an. Der Mieter muss ausziehen und verlässt Berlin, wohin er in den neunziger Jahren, getragen von Großstadteuphorie und intellektuellem Eifer, gezogen war, Richtung alte Heimat im Ostfriesischen, wo der Urgroßvater seinerseits aus seinem Haus vertrieben wird, weil der Eigentümer es abreißen lassen will. Eine höchst aktuelle Geschichte über die Gnadenlosigkeit des Immobilienmarkts und von der Utopie, zurückgehen zu können, von wo man einst aufgebrochen war.
Weit draußen in norddeutscher Provinz, unweit vom Meer, spielt auch Helene Bukowskis apokalyptisch gestimmter Debütroman „Milchzähne“ (So, 13:30 Uhr). Gedrückt von Misstrauen gegen alles Fremde, Zivilisatorische, hat sich hier eine Mutter mit ihrer Tochter in die Einsiedelei zurückgezogen. Doch das Mädchen will sich nicht länger mit ihrem Schicksal abfinden. Es beginnt zu lesen, zu schreiben. Die Aufnahme eines Findelkinds trägt zum Aufbegehren gegen eine dem Untergang geweihte Welt bei. Eine Geschichte voller „magischer Schönheit“, urteilte die Kritik.
„Ein Roman, in dem jedes Detail leuchtet und brennt“, verspricht Karen Köhlers Verlag. Auch in „Miroloi“, dem ersten Roman der vom Schauspiel kommenden Autorin, sorgt ein Findelkind für Aufsehen. Aufgewachsen in einem trostlosen Dorf, den Unbilden der Natur und der Willkür möchtegerngroßer Männer ausgesetzt, beginnt eine junge Frau sich zu wehren. Auch hier spielt das Lesen von Büchern eine befreiende Rolle (Sa, 16:30 Uhr).
Von der Illusion, in der Flucht aus der Stadt und auf dem Lande Lebensglück und eine neue Identität zu finden, handeln in dieser Saison nicht wenige Erzählungen und Romane. Die großstadtmüde Protagonistin in Lola Randls Roman „Der große Garten“ (So, 17:30 Uhr) wird von der Sehnsucht nach dem Land, einem einfachen, naturnahen Leben getrieben. Sie ist nicht die einzige etwas schräge Glückssucherin in diesem Roman. Eine pittoreske Schar von Einzelgängern gibt sich ein Stelldichein, ohne wirklich das zu finden, was man sich von dem Rückzug in die Uckermark versprochen hat.
Was andersherum passiert, wenn einer (nicht freiwillig) aus der Provinz verschwindet, um in der Ferne unterzutauchen – davon erzählt Norbert Gstrein in seinem neuen Roman „Als ich jung war“ (So, 17 Uhr). Rätsel und Geheimnisse, unerhörte Begebenheiten und rasante Spannungsbögen halten die Geschichte eines Tiroler Skilehrers zusammen, der unter Mordverdacht gerät, nach Amerika flieht und nach dreizehn Jahren zurückkommt. Wie es der Autor schafft, einen Kriminalroman zu schreiben ohne die übliche Dramaturgie einer Krimihandlung zu bedienen, eine Männergeschichte ohne falsches Pathos zu erzählen, wie er eine Handlung in Szene setzt, in der nicht nur Übergriffe in sexueller Hinsicht zu grundlegenden Erfahrungen gehören, wird in Erinnerung bleiben und zur Lektüre anstiften.
Recherchen, das eigene Familienleben betreffend, ein Leben voller Hindernisse und Umwege, Lügen und Verleumdungen, sind Grundlage einiger Romane in diesem Sommer. Wie sich ein junger Mann von seinen ländlichen Wurzeln und familiären Traditionen entfremdet, wie einer versucht, seine Herkunft hinter sich zu lassen und, gezeichnet von einer Atmosphäre gesellschaftlichen und politischen Hinterwäldlertums, zum hoch ambitionierten geisteswissenschaftlichen Studium nach Frankfurt zieht – davon erzählt Andreas Maier voller Ironie und Komik in „Die Familie“ (Sa, 15 Uhr).
Auch Ursula März stützt sich in ihrem Roman auf Recherchen innerhalb ihrer Familiengeschichte. „Tante Martl“, die auf den ersten Blick unscheinbare dritte Tochter eines Familienvaters, der nur Söhne wollte, ist eine nie aus ihrer westpfälzischen Kleinstadt heraus gekommene Volksschullehrerin. Einen Mann für sich allein findet sie zeitlebens nicht. Obwohl sie sich als Pflegerin ihres Vaters aufopfert, entwickelt sie sich zu einer selbstbewussten, widerständigen Frau, in deren Leben es am Ende ein unverhofftes Highlight geben wird (Sa, 17 Uhr). Wovon hingegen eine Figur wie der alternde Maler, vor sich hinlebend in einer einsamen Mühle, in Jan Peter Bremers neuem Roman „Der junge Doktorand“ (So, 15:30 Uhr), nur träumen kann. Zwei Jahre wartet er mit an Verzweiflung grenzender Vorfreude auf den jungen Mann, der ihm ein wissenschaftliches Denkmal versprochen hat. „Eine wunderbare Gesellschaftsparabel über unser allgegenwärtiges Bedürfnis gesehen zu werden“, verspricht der Verlag.
Ungemein spannend, atemberaubend geradezu, was sich einen Tag und eine Nacht lang auf dem Dach eines Hochhauses abspielt. Ist es Selbstbehauptung oder Protest, Resignation oder ein Schritt in die Freiheit, wenn eine junge Frau ihren Freund, die Schwester, die Polizei und eine Schar Schaulustiger mit der Androhung, in die Tiefe zu springen, in Atem hält? Worum es Simone Lappert in ihrem Roman „Der Sprung“ vor allem geht, ist ein Aufschrei gegen Gleichmut, Ignoranz und Alltagsroutine (Sa, 14:30 Uhr).
Ausgrabungen allenthalben! In Kenah Cusanits Romandebüt sind es ein deutscher Archäologe und eine britische Abenteurerin, die sich nach Vorderasien aufmachen, dorthin, wo einst das Osmanische Reich lag. Sie wollen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, hart an der Grenze zur Narretei, das Geheimnis um das sagenumwobene Babylon lüften. „Babel“ (So, 15 Uhr) spielt vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. „Eine saukomische Babel-Rhapsodie“, befand Sigrid Löffler. Ein Roman überdies, der vor Geschichtswissen nur so funkelt.
Was man auch über Christiane Neudeckers (So, 14:30 Uhr) neuen Roman „Der Gott der Stadt“ sagen kann. Was nur, in Gottes Namen, hat der Einbruch des expressionistischen Dichters Georg Heym ins Eis beim Schlittschuhlaufen mit der Leiche in einer elitären Schauspielschule im wiedervereinigten Berlin zu tun? Bereits im Vorfeld des Poetenfests wurde der bis dahin noch unveröffentlichte Roman, in dem Wahn und Wirklichkeit auf paradoxe Weise ineinander übergehen, mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Worauf wir bei der diesjährigen Bachmann-Preisträgerin, Birgit Birnbacher, noch warten müssen. Ihre Prosa unter dem aufgeräumten Titel „Der Schrank“ (Sa, 15:30 Uhr) ist in Buchform noch nicht veröffentlicht. Aber bei uns liest sie noch einmal aus ihrer rätselhaften Mutter-Tochter-Geschichte, in der es, so die Jury, sowohl um prekäre Lebens- und Wohnverhältnisse als auch um „Neue Arbeit“ geht. Es ist vor allem die literarisch „knisternde“ Sprache, die die Jury am Wörthersee bestach.
Als ein Höhepunkt in der Revue der Neuerscheinungen wird dem Publikum sicherlich die Lesung von Jaroslav Rudiš in Erinnerung bleiben (So, 16:30 Uhr). Es geht in seinem Roman „Winterbergs letzte Reise“ um einen greisen Sudetendeutschen, der nach dem Krieg aus der Tschechoslowakei vertrieben wurde und seine abwechslungsreichen Geschichten aus dem versunkenen Mitteleuropa seinem Pfleger Jan Kraus, unter rätselhaften Umständen aus dem Böhmerwald nach Deutschland gekommen, erzählt. Die beiden brechen eines Tages auf: Es geht über Reichenberg, Prag, Wien, Budapest, bis nach Sarajevo. Der Roman handelt von Geschichtsvergessenheit und Geheimnissen, denen es gilt, auf die Spur zu kommen.
Was wäre das Poetenfest, wenn nicht auch ein Roman im Programm stünde, in dem der heutige, hauptsächlich von Männern bestimmte Literaturbetrieb aufs Korn genommen wird. Gertraud Klemm erzählt in „Hippocampus“ (Sa, 14 Uhr) von einer fiktiven Autorin der feministischen Avantgarde, die posthum als Kandidatin für den Deutschen Buchpreis gehandelt wird. Eine Freundin sortiert ihren Nachlass, ein unerhörter Marketingwirbel beginnt, dagegen gilt es sich zu wappnen …
Hajo Steinert
Der Dichter und Erzähler Gerhard Falkner (Sa, 16 Uhr), der seit drei Jahrzehnten die Welt der Literatur immer wieder mit aufrührerischen Büchern in Unruhe versetzt, stellt in seinem neuen Gedichtbuch „Schorfheide“ das Naturgedicht auf neue Fundamente. Virtuos führt er vor, wie man das Naturschöne mit den Fachsprachen der Linguistik, der Informationstheorie und der Gewässerkunde verbinden kann. In ihrem neuen Band „eins: zum andern“ unternimmt Karin Fellner (Sa, 18 Uhr) den Versuch, ihr lyrisches Sprechen zu öffnen, für O-Töne, für Zitate, für ein Gegenüber. Die Lust am Wortklang, an Lautverschiebungen, Verwandlungen und Sprachspielereien aller Art bestimmen ihre Art des Schreibens.
Wenn der Dichter Henning Ziebritzki (So, 14 Uhr) ein „Vogelwerk“ vorlegt, darf man keine beschauliche Ornithologie erwarten. Sondern im Gegenteil viele Momente der Verstörung und Beunruhigung, weil sich Risse auftun in der Lebenswelt des Beobachters. Sein Zyklus positioniert sich in der weitest möglichen Entfernung zur romantisch gestimmten Naturlyrik und führt uns in unberuhigte Szenerien, gefährdete Zonen, Territorien der Gewalt.
Die Dichterin und begnadete Performerin Maren Kames (So, 16 Uhr) hat sich in ihrem zweiten Buch von der romantischen Mondbegeisterung abgewendet und eine sehr eigenwillige lunatische Fantasie entfaltet: „Luna Luna“ ist ein Grenzgang zwischen dunklem Monolog, Wachtraum und hypnotischem Nachtgesang, der anknüpft an Melodien und Songlines unterschiedlichster Pop-Größen wie Annie Lenox, Portishead oder Bon Iver.
Michael Braun